Weltweit sind rund 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist die höchste Zahl seit dem 2. Weltkrieg. Die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge findet in Nachbarländern und -regionen Schutz, knapp 90 Prozent sogar in Entwicklungsländern. Rund 22,5 Millionen dieser Menschen sind Flüchtlinge, die vor Konflikten, Verfolgung oder schweren Menschenrechtsverletzungen aus ihrer Heimat flohen.
Seitdem sich auch immer mehr Menschen aus Krisengebieten auf den Weg nach Europa machen, ist in der EU eine heftige Diskussion über den Umgang mit Flüchtlingen entbrannt. Doch warum verlassen Menschen überhaupt ihre Heimat, um sich in eine ungewisse Zukunft zu begeben, wie sieht ihr Leben vor Ort aus und wie können wir die Fluchtursachen wirkungsvoll bekämpfen? Darüber diskutierte die Parlamentarische Staatssekretärin Anette Kramme mit dem früheren Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechte, Christoph Strässer, sowie Prof. Dr. David Stadelmann, Professor für Entwicklungsökonomik an der Universität Bayreuth.
Kramme zeigte eingangs die Anstrengungen der Bundesregierung bei der Entwicklungshilfe auf: 1,2 Milliarden Euro stehen 2017 für die humanitäre Hilfe zur Verfügung, 476 Millionen Euro mehr als im Haushaltsentwurf vorgesehen, was auf die Initiative der SPD-Bundestagsfraktion zurückgeht. Mit einer mehr als Verdreifachung der Finanzmittel für humanitäre Hilfe in den letzten drei Jahren festige Deutschland seine Position als weltweit drittgrößter humanitärer Geber nach den USA und der EU.
Die Runde war sich einig, dass die EU eine gemeinsame Antwort auf die Flüchtlings- und Migrationsfrage in Europa finden müsse. Doch nicht erst hier, sondern bereits in den Herkunftsländern müsse gehandelt werden: Die internationale Gemeinschaft sei dringend aufgefordert, Krieg und Vertreibung in den Herkunftsländern zu beenden, aber auch Initiativen für Bildung und Arbeit zu unterstützen, damit Menschen wieder eine Lebensperspektive in ihrer Heimat bekämen.
„Nicht die Flüchtlinge sind die Katastrophe, sondern die Gründe für die Flucht der Menschen sind Katastrophen“, machte Christoph Strässer deutlich. Strässer ist seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er war über 10 Jahre Sprecher für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der SPD-Bundestagsfraktion und Beauftragter für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe der Bundesregierung. Derzeit leitet er den Gesprächskreis Afrika der SPD-Bundestagsfraktion und ist Mitglied im Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie im Unterausschuss für Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung.
„Seit 2011 herrscht Bürgerkrieg in Syrien. Seitdem sind Menschen auf der Flucht. Sie leben teilweise seit Jahren in riesigen Flüchtlingslagern unter erbärmlichen Bedingungen und ohne Zukunftsperspektive. Die internationale Gemeinschaft hat es nicht geschafft, die Menschen ausreichend mit Lebensmitteln, Trinkwasser und Medikamenten zu versorgen. Bildung und Betreuung der Kinder findet nicht statt. Kann man es einer Familie verdenken, wenn sie vor dieser Situation flieht?“, fragte Strässer und gab umgehend selbst die Antwort: „Natürlich nicht. Wir alle würden sicherlich genauso handeln.“
Um unmittelbare Auswirkungen von Flucht und Vertreibung bis zum Erreichen nachhaltiger Lösungen zu bewältigen, sei der Einsatz humanitärer Hilfe, so Strässer, zentral. Sie greife aber immer erst, wenn die Krise bereits ausgebrochen sei. „Maßgebliches Ziel der SPD-Bundestagsfraktion ist es, den Menschen in ihren Heimatländern eine Perspektive zu ermöglichen, damit Krisen erst gar nicht entstehen. Das erfordert vielfältige und aufeinander abgestimmte Lösungsansätze“, ergänzte Christoph Strässer. „Es geht um Frieden und Konfliktprävention, um existenzsichernde Arbeit, Infrastruktur, den Aufbau von Gesundheitssystemen, die Einrichtung fairer Bildungs- und Ausbildungssysteme. Es geht aber auch um fairen Handel und faire Welthandelsverträge.“
Auf die gegenwärtige Flüchtlingskrise in Deutschland und deren wirtschaftliche Auswirkungen ging Prof. Dr. Stadelmann von der Uni Bayreuth ein. Sein Fazit war eindeutig und er trat damit gängigen Vorurteilen einer Überforderung entgegen: „Wir können die derzeitigen Migrationsbewegungen leicht stemmen sowohl was unsere Wirtschaft als auch unseren Arbeitsmarkt betrifft.“ Mit einer provokanten These schloss Stadelmann: Um die gefährliche Flucht zum Beispiel über das Mittelmeer durch Schlepper oder dergleichen zu verhindern, sollte man, Stadelmann zufolge, einen legalen aber bezahlbaren Weg schaffen. Asylsuchende sollten dann an Flughäfen die Möglichkeit haben eine Abgabe zu bezahlen, um damit einen Flug und die weiteren Kosten der Integration in Deutschland zumindest teilweise mitzufinanzieren. Durch diese Integrationsabgabe sei zum einen eine sichere Einreise gewährleitet und zum anderen finanziell für einen Ausgleich gesorgt. „Das Geld würde ja ohnehin bezahlt, nur eben dann nicht mehr an die kriminellen Schlepper.“
In der anschließenden Diskussion meldete sich auch Anna Westermann, Dekanatsbeauftragte für Flüchtlingsarbeit, zu Wort und ging auf die Ankunfts- und Rückkehrzentren sowie den geplanten Ausbau der sog. Transitzentren ein. „Wir sehen die Ausbaupläne mit großer Sorge. Die Nachteile dieser Einrichtungen sind, dass Flüchtlinge dort kaum Zugang zur Asylsozialberatung haben und sich über den Ablauf ihres Asylverfahrens allenfalls bei der Ausländerbehörde, aber nicht bei einer unabhängigen Stelle informieren können. Die Flüchtlinge dort unterliegen einer engen Residenzpflicht und dürfen nicht arbeiten. Teilweise über Monate bis hin zu zwei Jahren oder noch länger verharren die Menschen in diesen Einrichtungen. Ihr Alltag besteht aus Warten und Langeweile. Das führt schließlich zu Verzweiflung.“ Anette Kramme sagte zu, hier tätig zu werden.